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Aus der tantrischen Tradition

Yogini

 

von Sohan Qadri


„Kannst du die Rolle einer Frau spielen,
 um die Tore des Himmels zu öffnen und zu schließen?“
(Tao)

Yogini, „Die Frau – in Einheit mit dem Selbst.’’

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In diesem abstrakten Zusammenhang steht die Frau für Shakti und das Selbst für Shiva. Gemeinsam stellen sie das weibliche und das männliche Prinzip dar: die Polarität der Energie in der kreativen Ekstase.

Nach körperlichem Verständnis ist die Yogini der weibliche Partner des Yogis im tantrischen sexuellen Yoga, das eines der als Pancha Makra oder Chakra Puja bekannten fünf Rituale ist.

Im tibetischen buddhistischen Tantra ist sie bekannt als Dakini, welche Mönche in ihren Weg zur Buddhaschaft einweiht. Die Dakini ist eine Nonne, die vor allem auf den Leichenverbrennungsplätzen Buße tut und den Suchenden hilft, ihr erstes und letztes Verlangen zu überwinden, indem sie diese in den tantrischen sexuellen Yoga einführt.

Die Yogini ist nach klassischem Begriff eine weibliche Ausübende des tantrischen Yoga.

 Im literarischen Sinne bezeichnet der Begriff Yogini eine begabte und fähige Frau, deren Kapazitäten und Fähigkeiten entweder geerbt oder durch Yoga erworben worden sind.

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Der kosmische Mutterleib (Maha-Maja)

Ihre Natur ist dynamische Kraft. Indem sie diese Kraft im ekstatischen Akt einsetzt empfängt sie das kosmische Ei, das Brahmanda, das gleichzeitig sie selbst ist. Mit demselben Impuls und derselben Kraft offenbart sie sich durch das kosmische Ei als das Gesamte der Schöpfung. In ihrer Unterwerfung wird sie zur Leidenschaft in allen Tätigkeiten des Lebens. In ihrer körperlichen Liebe erlöst sie das Individuum frei am Tanz des Lebens teilzunehmen. Und schließlich, in ihrer barmherzigen Liebe für alle Schöpfung, die sie selbst ist, atmet sie es wieder ein und lässt es sich ineinander falten, um mit dem kosmischen Mutterleib zu verschmelzen. Wieder wird alles Eins.

Mythos und Metaphysik

Das weibliche Prinzip ist in fast allen bekannten Kulturen in diversen Bildern, Namen und Formen dargestellt und verehrt worden. In der tantrischen Tradition wurde sie zu einem lebendigen Phänomen. Tantra ist ein gut angelegter Pfad, auf dem sie, die „Yogini“, viele Identitäten annimmt – von der schrecklichen Kali bis zur lieblichen Lalita.

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Um sie symbolisch zu verkörpern wurde ein Bild der Yoni (die Vulva) in Stein oder Holz eingeritzt - es wurde zum Emblem der Yogini. Tantrische Meister entwarfen auch geometrische Figuren (Kraftdiagramme), die ebenso das dominierende weibliche Prinzip symbolisieren sollen. Die Yoni wird als ein auf der Spitze stehendes Dreieck dargestellt.

Verehrung der Yoni

Der Ursprung des oben beschriebenen Phänomens liegt in der tatsächlichen Anbetung des weiblichen Geschlechtsorgans. Eine junge, gesunde und schöne Frau, die mit Edelsteinen geschmückt, reichlich parfümiert und durch Yoga und Meditation geweiht worden ist, wurde selbst zum Objekt der Anbetung; ihre Yoni (Vulva) symbolisierte den kosmischen Mutterleib. Durch schrittweise stärker werdende Liebe, die zunächst auf einen menschlichen Liebhaber in körperlicher Liebe gerichtet war, um dann auf den transzendentalen Zustand – von dem menschliche Liebe nur ein Widerschein ist - übertragen zu werden, wurde ein Zustand unendlicher Glückseligkeit erreicht.

Jedes Symbol ist lediglich ein Symbol für etwas anderes und dieses „andere“ ist die innerste Realität. Ein Symbol oder ein Bild wird erschaffen, um als eines der Mittel im Prozess der Erfahrung dieser Realität gebraucht zu werden. Durch Anrufung und Meditation wird dem Symbol Leben eingehaucht. Der Yogi lässt in seinem Sadhana Klang (Mantra) und Sehkraft (Yantra) hinter sich und löst sowohl sich selbst als auch das Symbol auf, um die Glückseligkeit zu umfangen und zu ihr selbst zu werden.

Das Symbol wird auf diese Weise zurückgelassen und wird zum Museumsgegenstand. Der Anrufer und das Angerufene verschmelzen zu einem Bewusstsein - was zurück bleibt, ist ein Relikt.

Diese Relikte finden sich in vom Hinduismus und Buddhismus verschiedenen Kulturen, in denen das weibliche Prinzip als Göttin dargestellt wurde. Um die weibliche Gottheit moralisch annehmbar zu machen, wurde sie Muttergöttin oder Mutter Erde genannt.

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„Der Geist des Tales ist unsterblich
Es ist die Frau  – die ursprüngliche Mutter
Ihr Tor ist die Wurzel des Himmels und der Erde
Es ist ein kaum sichtbarer Schleier. Gebrauche es …
Es wird niemals scheitern."
(Tao)

Intuition und Instinkt

Die Yogini ist instinktiv dynamisch und eine Meisterin in der Kunst des Yoga, sowohl des exoterischen (Körper, Sinne, Geist) als auch des esoterischen (Bewusstsein). Sie besitzt die Macht, andere zu initiieren, zu erleuchten und zu befreien.

Es ist allgemein bekannt, dass Frauen gewöhnlich intuitiver sind als Männer. Psychologen bestätigen, dass die Frau intuitiver ist und begründen dies mit der Tatsache, dass die Mutter in der Lage sein muss, ihr Kind zu beschützen.

Der weibliche Instinkt

Ein Freund von mir aus Los Angeles, Kalifornien, der Meteorologe ist, berichtete mir einmal von einer interessanten Beobachtung, die er gemacht hatte. Er sagte, dass kein Seismograph im Voraus die exakte Zeit eines Erdbebens bestimmen könne. Über die Jahre hatte er allerdings die Erfahrung gemacht, dass Frauen die Gefahr eines herannahenden Erdbebens spüren konnten, kurz bevor es geschah. Sie selbst mag es nicht einmal mitbekommen, aber eine Frau reagiert intuitiv bevor ein Mann es tun würde.

Meine eigene Erfahrung und Beobachtung stützt diese Ansicht und erweitert sie bis zu dem Grad, dass die Weibchen anderer Spezies, z. B. Hunde und Katzen, den Bruchteil einer Sekunde vor den Männchen intuitiv auf anstehende Ereignisse und eventuelle Gefahren reagieren.

Innerhalb von Yoga kann leicht eine Parallele aufgezeigt werden, in Anbetracht der Tatsache, dass das Ajna Chakra bei Frauen stärker vibriert und leichter zu beeinflussen ist als bei Männern. Es ist ebenso beobachtet worden, dass Frauen mehr physischen Schmerz ertragen können als Männer. Die Begründung ist, dass die Frau von Natur aus darauf ausgelegt ist, Kinder auszutragen und die Wehen während einer Kindesgeburt auszuhalten. Zu einem gewissen Maß verfügt sie über einen angeborenen Widerstand gegen die Wirkungen dieser Wehen, der gewährleistet, dass sie ebenfalls in der Lage ist, bezüglich anderer Arten körperlichen Leidens mehr zu ertragen. Langlebigkeit ist ein weiterer Punkt, um den oben erwähnten Charakterzug zu bestärken. Die durchschnittliche Frau lebt unter gleichen Bedingungen fünf bis sieben Jahre länger als der durchschnittliche Mann.

Dynamik

Wegen ihrer Periode von Menstruation und Eisprung ist die biochemische Umwandlung von Energie einer Frau veränderbarer und dynamischer als die des Mannes. Diese beständige biochemische Veränderung in den metabolischen und sekretorischen Abläufen des Körpers bewirkt dazugehörige periodische psychische Zustände von hoher und niedriger Intensität. Ihre gesamte psycho-physische Verfassung entspricht den dynamischen Prozessen der Natur, wie den Bewegungen der Planeten und den Phasen des Mondes. Das bedeutet, dass die weibliche Psyche aufgrund des menstrualen und ovulatorischen Rhythmus periodisch ist, was auch einen Einfluss auf ihre psycho-physische Aktivität hat, während die männliche Psyche in dieser Hinsicht linear und statisch ist.

Entdeckung des Körpers

Tantra ist stets offen für die körperlichen und psychischen Bedürfnisse des Menschen und bezieht sie in das spirituelle Streben des Menschen mit ein. Aufgrund dessen wurden für diejenigen, die mit sich selbst arbeiten möchten, neue Ausgangspunkte entdeckt und präzise Methoden entwickelt. Der Ausgangspunkt sind die Frau und der Mann selbst, beide ihre unverkennbaren Merkmale vertretend. Die Frau und der Mann, jeweils mit ihrem Körper und Geist, ihren Hoffnungen und Wünschen, werden nun zum wichtigsten Symbol des tantrischen Yogarituals. Die Tatsache, dass Frau und Mann gemeinsam zu aktiven Nutzern dieser Methoden auf dem Weg zu Freiheit und Erleuchtung wurden, eröffnete das Entstehen neuer Möglichkeiten für ein Bewusstwerdens mittels tantrischem Yoga, was den Erfolg der Rituale sicherstellte. Die Yogini wurde von den Ritualen der Priester ausgeschlossen, doch in diesen Ritualen wurde sie unverzichtbar. Die Methode und das Bewusstsein, dass sie erweckten, machte jede Tätigkeit des Lebens zu einem Akt des Yoga.

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Die doppelte Umarmung

Linga-Yoni, Yub-Yab und Yin-Yang Vereinigung symbolisieren die Erfüllung des Yoga durch Bhoga (aktives und bewusstes Vergnügen). Im Gegensatz zu klösterlichen religiösen Systemen stellte Tantra Situationen her, in denen zwei (der Yogi und die Yogini) zur gleichen Zeit, statt eines einzelnen Glückseligkeit erfahren konnten.

Normalerweise werden der Trancezustand und die Fähigkeit, sich selbst vollkommen aufzugeben nur für einen kurzen Moment während der Ekstase des Orgasmus erfahren. Doch unter der richtigen Anleitung und Einweihung durch den Guru werden die vier Elemente des Geistes, die die Hormone (bzw. Liebessäfte), die Gefühle, Leidenschaft (Farbe) und körperliche Organe − Rasa, Raga, Ranga und Anga − beinhalten, akzeptiert, aktiviert und erhoben, bis schließlich im Chakra Puja Ritual ein Zustand vollständigen individuellen und kollektiven Bewusstseins erreicht wird.

Soziale Bedeutung

Mit dem Konzept der Yogini erschuf Tantra eine neue Wahrnehmung von den der Frau innewohnenden dynamischen Kräften. Die Abgrenzung der Frauen von Männern, die von der männlich orientierten sozialen Struktur auferlegt worden war, und das religiöse System Indiens wurden hierdurch außer Kraft gesetzt.

Tabus, wie das der Unreinheit der Frau während der Menstruation, wurden nun der Lächerlichkeit preis gegeben, denn in genau dieser Periode erreicht der Fluss der psychischen Energie des Körpers seinen Höhepunkt. Dieser bestimmte Moment wird auch als der meist geeigneste für die Ausführung tantrischer Meditationen und Rituale angesehen.

Während der Anrufung eines gewissen Rituals, wenn der Geist vollkommen aufmerksam ist, wird als ein Tribut an die Frau und ihre Kräfte eine kleine Menge Menstruationsblut und Samen gesammelt. Brahmanen und andere so genannte „würdige” Anwärter (Frauen ausgeschlossen) trugen Kennzeichen aus Safran und Sandelholzpaste auf ihrer Stirn. Der Tantriker hingegen nahm jenes Blut und zeichnete während der Zeremonie ein Mal auf seine Stirn.

Die Tatsache, dass eine Frau als Führerin und Initiatorin anderer zur Erweiterung des Bewusstseins diente, war undenkbar in einer brahmanischen Gesellschaft, geprägt von viktorianischem Puritanismus und Moralität. Dies wurde möglich, da die Yogini als weibliche Eingeweihte, als ihrem männlichen Partner in jeglicher Hinsicht gleichwertig akzeptiert wurde, ungeachtet ihres sozialen oder religiösen Status. Einige traditionelle tantrische  Schriften gingen sogar soweit, zu behaupten, dass es besser sei, von einer Yogini eingeweiht zu werden als von einem Yogi.

Von Zeit zu Zeit hat es verschiedene parallele „Traditionen” gegeben, in denen von den mystischen Formeln der gemein bekannten okkulten Tradition und Alchemie Gebrauch gemacht wurde, einige davon so schlau ersonnen, dass sie zu schwarzer Magie oder Hexerei wurden. Derartige Dinge wurden im Namen von Tantra verwendet und missbraucht, nichts davon beinhaltete jedoch die systematischen und tiefgehenden Methoden des tantrischen Yoga.

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Die physische Wesenheit

Die bloße Tatsache, dass der Mensch sich die Existenz einer Gottheit ausmalte, brachte ihn dazu, an allen möglichen Orten außer aus seinem Inneren heraus nach Informationen und Bestätigung zu suchen. Dies erzeugte eine Haltung, die die Realität – ‚das, was ist' – von sich wies,  zugunsten von Träumen und fernen spirituellen Welten.

Diese Vorstellungen und Träume fesseln uns so sehr, dass wir uns zu dem Glauben hypnotisieren lassen, sie wären realer als die Realität, die wir hier und jetzt erleben. Diese wirre und ängstliche Flucht vom Leben selbst hat einen Auswuchs an moralischen Systemen – einem puritanischen und intellektuellen Dschungel - produziert, die den gewöhnlichen Suchenden Menschen ausschließen. In der tantrischen Tradition werden der Yogi und die Yogini nicht als ferne höhere Wesen vorgestellt. Sie sind ganz im Gegenteil physische Wesen, lebendige Personen. Die Aufführung des Schauspiels (Ritual) basiert auf der Annahme, dass ‚das, was ist', angenommen und nicht abgelehnt wird.

Wie ich es sehe, ist in jedem Menschen das Bedürfnis zu finden, sein gesamtes Wesen zu verwirklichen, ganz egal, wie weit entfernt diese Möglichkeit zu sein scheint. Manche sind mehr dazu geneigt, sich für dieses Bedürfnis zu öffnen als andere. Es wird gesagt, dass sei das Resultat des Karma. Doch die tantrischen Meister haben versucht, diese karmische Lücke zu überbrücken, indem sie unbekannte universelle Methoden einführten und neue Felder wiederentdeckten; Dinge, die von jedem gebraucht werden können, ungeachtet der Herkunft, Hautfarbe, des sozialen Status, persönlicher Charakteristiken oder übriggebliebenen Karmas.

Die Yogini bringt aufgrund ihrer physischen Gegenwart im Ritual eine Erfahrung für den Yogi und sich selbst zustande.

Göttliche Libido

 Alle Energie ist im Grunde die gleiche: ursprüngliche Energie. Wir erfahren sie in ihren verschiedenen Manifestationen von sexueller bis zu psychischer Energie. Wilhelm Reich nannte sie Orgonenergie und im Okkultismus ist sie bekannt als odische Energie. Freud nannte sie Libido, eine sowohl aktive als auch reaktive Energie. Sie ist eine energetische Spannung, auffindbar in allen Aktivitäten auf allen Ebenen.

Ein Physiker benötigt zwei Pole um die Gegenwart eines Energieflusses oder Energiefeldes bestimmen zu können. In der tantrischen Physik wird die Energie Shakti oder weibliche Energie genannt und ist dynamisch, während ihr Gegensatz Shiva, männliche Energie, statisch ist. Der Fluss von Shakti (Prana oder Lebensenergie) ist sowohl die Ursache als auch die Wirkung aller Schöpfung, darin eingeschlossen ihr Anfang, ihr Fortbestand sowie ihre Auflösung. Yogini, Devdasi, Shodasi, Domini und Duti sind die verschiedenen Namen, die sie im Ritual trägt (weibliche Yogi, eine Braut Gottes, eine 16 Jahre* alte Frau oder 16 Variationen von Verlangen (Kama), eine unantastbare Frau, ein weiblicher Bote). Diese repräsentieren alle die ursprüngliche Energie, die sowohl sexuell als auch psychisch vom aktiven Teilnehmer an, ‚dem, was ist,' - im werden und im sein erlebt wird.
* In Indien lag das Mündigkeitsalter vor 1949 bei 12 Jahren. 1949 wurde es auf 15, 1982 auf 16 und 2013 auf 18 erhöht.

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Das was sich bewegt, ist Sie,
Das was sich nicht bewegt, ist auch Sie,
Das was ist, ist Sie.
(Sohan Qadri)


Siehe auch ein Interview mit Sohan Qadri: Du musst dich verschlucken lassen ...

Illustrationen: Das Portrait von Sohan Qadri wurde 1977 von Swami Janakananda aufgenommen. Die Photographie der Tempeltür stammt von Torben Huss. Brahmanda wurde von Swami Janakananda photographiert. Die Yogini unter der Überschrift Mythos und Metaphysik und die Yoni unter Verehrung der Yoni sind aus dem Buch „Yogini, cult and temples, a tantric tradition” von Vidya Dehejia, National Museum New Delhi. Die Skulptur unter der Überschrift Entdeckung des Körpers ist aus einem Tempel in Kajuraho, photographiert von Swami Janakananda. Unter der Überschrift Soziale Bedeutung sehen wir Tara, eine weibliche Figur von den Philippinen, Chicago South East Asia Museum. Die Malereri zum Schluss: „A personal deity for meditation” von Sohan Qadri 1976.